Gute Worte sind oft störend

Berührbar werden in einer Welt der Selbstbezogenheit


All jene, die gebetsmühlenartig wiederholen, dass sie nicht auf das Drama blicken, nicht auf die Angst, nicht auf das Leiden, nicht auf den Mangel, nicht auf den Kampf, nicht auf die Gefahr, weil sie ihre Energie lieber in schöne Dinge fliessen lassen möchten, sollten sich daran erinnern, dass nirgends auf der Welt das Leid je endete, wenn nicht Menschen, einige wenige oft nur, bereit waren, sehr genau hinzusehen, wie schrecklich das was sie sahen auch war. Das Leiden endete, wenn Menschen bereit waren, sich mutig dem Elend, der Not, der Grausamkeit zu stellen und es tatkräftig zu ändern, auch wenn es sie nachhaltig um ihren inneren Frieden brachte, um ihre Ruhe, möglicherweise um ihre Gesundheit oder ihre Freiheit.


Wir brauchten und brauchen immer noch Menschen, die bereit sind, nicht nur das Schmerzliche zu sehen, sondern es auch zu empfinden, bis in die Tiefe ihres Seins, mitfühlend Anteil zu nehmen am Leben jener, die in Angst und Schrecken leben. Wir brauchten und brauchen Menschen, die die Stimme erheben für jene, die mundtot gemacht werden, die Rechte einklagen für jene die entrechtet sind. Wir brauchten und brauchen Menschen, die bereit sind, sich das Herz brechen zu lassen am Leiden der Welt, das nicht sein müsste, füllten wir alle das Wort „Mensch“ mit dem Glanz unserer Herkunft.


Die esoterische Wohlfühltyrannei ist nicht nur ein Affront gegen jeden denkenden Geist und jedes empfindsame Herz, sondern auch ein Angriff auf die Rechte jener, die zu schützen wir verpflichtet sind. Ein Land im Wohlstand trägt Verantwortung für Menschen in Armut. Ein Mensch mit gesunder Lebenskraft trägt Verantwortung für die Kranken. Ein Mensch mit wachem Geist trägt Verantwortung für jene, denen das Denken verboten wird. Es kann nicht unsere oberste Priorität sein, auf einer Wolke seliger Unberührbarkeit zu schweben, während Menschen vereinsamen, kapitulieren, sich verlieren. Und zwar nicht erst auf dem nächsten Kontinent, sondern bereits hier, in unseren Gemeinden, in unseren Familien, unserem engsten Umfeld, hinter glatten Fassaden.


Wenn wir glauben, dass das eingelullte Gefühl, das wir in unseren Wohnzimmern empfinden, der Welt dient, dann haben wir etwas grundlegend missverstanden: wir haben den tiefen Seelenfrieden, von dem alle großen spirituellen Lehren als Frucht der Meditation und des Gebets sprechen, und der den Frieden der Welt nährt, mit dem vordergründigen Wohlgefühl verwechselt, das in uns durch hübsche Affirmationen, durch Selbstbezogenheit und Scheuklappen im Alltag entstanden ist. Tiefer Seelenfrieden ist keine Frucht separatistischer Glückssuche, keine Frucht der Unberührbarkeit und erst recht kein Resultat der Suche nach der eigenen Größe oder Bedeutsamkeit. Tiefer Seelenfrieden leuchtet da, wo der Mensch seiner göttlichen Herkunft und Beheimatung begegnet.


Dem Göttlichen in sich Raum zu geben heisst aber immer, berührbar zu sein, bis zu dem Punkt an dem jeder Schmerz der Welt der Deine wird. Vielen wird da bange – wie auch nicht? Es sollte uns eher beunruhigen, ängstigte uns diese Empfindung nicht. Aber es gibt etwas über jedes Verstehen hinausgehendes Heiliges, das uns begegnet, in dem Maße in dem wir diese Erfahrung zulassen, und wir torpedieren diese Begegnung, wenn wir jeden Tag wie trotzige Kinder darauf beharren, dass uns Glück und Wohlgefühl rund um die Uhr zustünden, dass Dinge immerzu leicht sein müssten oder dass alles ja schon in uns ist und wir uns nur noch mehr mit uns selbst beschäftigen müssten. Tiefe Freude ist ohnehin etwas anderes – sie wächst als Erfahrung gleichermaßen, wenn wir die Tiefe des Mitgefühls zulassen.


Manch einem dämmert es, während er unerfreuliche Arbeit tut, sich abmüht, den Zweifel und Konflikt im Innen wie im Außen zulässt und austrägt, die Spannung der Dinge aushält und austrägt, dem Leid und dem Leidenden begegnet und sich selbst all die blutvollen Wendungen des Lebens nicht länger untersagt anstatt sie in selige Harmonie glattbügeln zu wollen, dass es eine Erfüllung und eine so unkorrumpierbare Schönheit des Lebens gibt, in der wir reifen, wachsen, erwachen und Mensch werden - und das ist ein Wunder, das uns nicht entrückt, sondern entzerrt. Und was Verzerrung war, das begreifen wir dann, wenn wir aufhören zu vermeiden.


Natürlich können wir weiterhin das weiche Bett des immer positiven Gefühls suchen und darauf liegen wie lächelnde Tote – oder wir gehen dieses riesige Wagnis des Lebens ein, zu beten, wieder und wieder:


„Gott, ich will berührbar sein.“


Und nichts wird bleiben wie es war.


(Giannina Wedde/KLANGGEBET, https://www.facebook.com/pages/Klanggebet/185240691513819)


Bild: Aimé Morot, Der barmherzige Samariter, 1880

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Autor Gabriele Bavastrelly